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Objects in mirror are closer than they appear
Gallery erstererster Berlin 
April 9th – 19th 2022

Text: Rainer Unruh, Jahrgang 1961, arbeitet als Kunst- und Filmkritiker in Hamburg. Er schreibt regelmäßig für die Zeitschrift Kunstforum international und unterrichtet an der Akademie für Mode und Design (AMD) Kulturjournalismus

Photos Opening: Andrea Vollmer

Der flüchtige Glanz des Augenblicks

Der morgendliche Blick in den Spiegel, bevor man die Wohnung verlässt und auf die Straße geht, ist für viele ein Ritual. Es dient der Selbstvergewisserung: Bin ich noch der, der ich gestern war, und kann ich mich draußen sehen lassen? Oder ist aus mir, Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ (1912) lässt grüßen, über Nacht ein Monster geworden?
Wir können uns niemals sicher sein. Auch davon handeln Jenny Hasselbachs Fotografien. Eine Arbeit wie „Mirror #3“ (2021) scheint dem zu widersprechen. Sie entstand in einem Waschraum, aber wirkt fast abstrakt: Die fest verfugten, blitzblanken Kacheln sind quadratisch angeordnet, eine Architektur aus horizontalen und vertikalen Linien, deren Strenge und Stabilität durch den Spiegel an der Wand unterstrichen wird, der selbst ein Rechteck ist und zugleich die Rechtecke um sich herum reflektiert.
Der Preis der Perfektion: Wir schauen in einen Raum ohne Menschen und ohne Spuren von Leben. Dort, wo das Organische ins Spiel kommt, ändert sich das Bild. Ein schwarzer Schleim ergießt sich in „Tulipa cultivars“ (2021) aus der Tulpe, die ihren Kopf hängen lässt und deren Tage gezählt sind. Was lebt, das vergeht. Spiegel erzeugen die Illusion, wir könnten uns die Welt vom Leib halten. Aber die Wirklichkeit ist anders. Jenny Hasselbach führt uns das drastisch vor Augen. Die Lilie, die in „Lilium speciosum“ (2021) das Gesicht der Künstlerin besetzt, hat etwas von einem Parasiten, der sich den Menschen als Wirtstier ausgesucht hat. Auch „Monstera deliciosa“ (2022), ein Meisterwerk, nicht nur, was die raffinierte Lichtregie angeht, erinnert in seinem bedrohlichen Schattenspiel an expressionistische Filme der 1920er Jahre.
In den Casinos von Las Vegas gibt es keine Uhren. Glücksspiel funktioniert am besten, wenn der Spieler nur im Moment lebt und nicht ans Morgen denkt. Amazon & Co. haben dieses Prinzip in die digitale Welt übertragen: konsumiere, als ob du unsterblich wärst. Jenny Hasselbachs Arbeiten stellen diesen Grundsatz infrage. Eine Fotografie wie „Sky #2“ (2021) feiert mit all der Kraft und technischen Perfektion, die diese Künstlerin auszeichnet, den flüchtigen Glanz des Augenblicks. Der Himmel aus einem verfallenen Haus heraus fotografiert, das ist Ruinenromantik 2.0, aber immer im Bewusstsein unserer Zeitlichkeit und Vergänglichkeit.
Spiegel sind nicht unschuldig. Für den Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981) werden wir als Kinder durch die Konfrontation mit unserem Spiegelbild zu Erwachsenen. Zugleich gaukelt uns das Spiegelbild eine Perfektion und einen direkten Zugang zur Welt vor, unabhängig von Sprache und Symbolen, der nicht erreichbar ist und den wir zugleich begehren, ohne dieses Bedürfnis jemals stillen zu können 1. Wir brauchen Bilder, die diese Spannung sichtbar machen. Die die Wirklichkeit nicht verklären. Die nicht nur die Schönheit feiern, sondern die auch den Schmerz der Existenz ins Bewusstsein rücken. Wir brauchen die Fotografien von Jenny Hasselbach.

1 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. Bericht für den 16. Internationalen Kongress für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949, in: ders.: Schriften 1, ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas, 4. durchgesehene Auflage, Berlin: Quadriga, 1996, S. 61-70; zur Bedeutung Lacans für die Kunst: Dorothee Wimmer: Das Verschwinden des Ichs. Das Menschenbild in der französischen Kunst, Literatur und Philosophie um 1960, Berlin: Reimer, 2006, S. 30-34